Vonne Alleestraße weg

Ich komme in Bochum »vonne Alleestraße weg«. Mit der Betonung auf »weg«. Die Alleestraße ist eine Gegend, da sind nicht viele Bibliotheken. Auch der Bücherbus ist früher mit verhängten Scheiben einfach durchgerast.

Die Alleestraße ist eine vierspurige Hauptverkehrsstraße, die schnurgerade stadtauswärts führt. Da stand links ein Schild mit »50« drauf und rechts auch, sodass viele Autofahrer dachten: In der Mitte gilt dann wohl Tempo 100.

Aufgewachsen bin ich in der Nummer sechsunddreißig, wo heute das Wahlkreisbüro der Linkspartei ist. Früher hingen an den Bäumen entlang der Straße schon mal Plakate der KPD /ML oder der ML PD. Ein paar Meter weiter begannen die Hallen der Waffenschmiede des dritten Reiches, also von Krupp. Heute werden da die Radreifen für den ICE hergestellt.

Neben dem Haus ist heute ein riesiger Supermarkt. Früher war da ein großer Parkplatz, und wenn man den überquerte und dann noch durch eine Tür in einem Drahtzaun ging, kam man in einen Teil der Stadt, für den es bis heute zwei schöne Bezeichnungen gibt. In anderen Städten nennt man es »Rotlichtbezirk« oder »sündige Meile«, bei uns heißt das »Gurke« oder »Eierberg«.

Da war immer was los. Einmal ist schräg unter meinem Fenster, mitten auf den Straßenbahnschienen, jemand erstochen worden, wovon ich aber nichts mitbekam, immerhin geschah das nachts und ich war als Kind berühmt für meinen tiefen Schlaf.

Ein anderes Mal stand ich morgens, kurz bevor ich zur Schule musste, in unserem kleinen Badezimmer, als wildes Geschrei mich ans Fenster lockte. Auf dem Parkplatz nebenan sah ich einen Mann in einem zerknitterten Anzug Richtung Straße laufen, verfolgt von einem braungebrannten Typen mit strähnigen, blondierten Haaren, engen Jeans und freiem Oberkörper - obwohl es regnete. Der Braungebrannte erwischte den anderen kurz vor der Straße und vermöbelte ihn nach allen Regeln der Kunst. Ich fand, das sah aus wie im Fernsehen. Der Braungebrannte ging zurück, woher er gekommen war, die Arme ein wenig vom Körper abgespreizt, der andere rappelte sich auf und schrie: »Ihr verdammten Zuhälter!«, was den Halbnackten aber nicht zu interessieren schien.

Bisweilen wurde ich auf der Straße nach dem Weg gefragt. Da hielt dann ein Auto am Bordstein, der Fahrer kurbelte das Fenster runter und sagte: »Ey, kannze mir sagen, wie ich auffen Eierberch komme?« Ich muss also bereits mit acht Jahren diese animalische Sexualität ausgestrahlt haben, die ich mir heute selber nachsage.

Waren die Leute freundlich, antwortete ich, sie möchten doch bitte hier auf den großen Parkplatz einbiegen, bis nach hinten durchfahren, den Wagen abstellen und durch die Tür im Zaun gehen. War das Wetter schön, wünschte ich auch noch »viel Spaß«. Waren die Leute nicht so nett, riet ich ihnen, noch hundert Meter weiter zu fahren, an der Ampel nach rechts in die Gussstahlstraße einzubiegen und dann dem Straßenverlauf wiederum nach rechts zu folgen. Da galt nämlich abends »Einfahrt verboten« und die Polizei stand nicht selten da und hat abkassiert.

Nicht so lustig war es, als ein Nachbarsjunge und ich einmal an einem sonnigen Nachmittag von fünf Männern angesprochen wurden, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Sie zeigten uns ein Blatt Papier mit einem Loch in der Mitte, durch das sie immer wieder mit einem Kugelschreiber hindurchstießen. Dazu sagten sie die beiden einzigen deutschen Wörter, die sie kannten, nämlich »Scheide« und »Haus«. Das war uns dann doch ein bisschen unheimlich, und da wir mit unseren sieben oder acht Jahren nicht wussten, was wir darauf sagen sollten, gingen wir einfach weiter. Worauf die fünf Männer hinter uns herkamen und erst abdrehten, als wir in unseren Hausflur stolperten.

In nicht weniger als drei Wohnungen habe ich im Haus Nummer 36 an der Alleestraße gewohnt. Das Haus gehörte den Eltern einer Jugendfreundin meiner Mutter. Der Vater war Zahnarzt der alten Schule. Er trug einen fast bis auf die Knöchel reichenden Kittel mit einem Gürtel über dem Bauch und hatte weiße, streng zurückgekämmte Haare. Es gab eine Verbindungstür zwischen der Praxis und der Wohnung, was ich außerordentlich spannend fand. Die Frau des Zahnarztes kleidete sich fein und trug Broschen an der Bluse. Im Esszimmer standen Bücher wie »Dicke Lilli, gutes Kind« und »Der geschenkte Gaul« in einem weißen Bücherschrank. Neben der Tür fand sich ein Servierwagen mit einer großen Packung Lefax. Auf einer Anrichte stand eine kleine Etagere, die immer mit Gebäck bestückt war, vor allem mit Vanille-Kipferln. Schon komisch, an was man sich alles erinnert. Ich nannte die beiden Omma und Oppa, weil ich bei ihnen fast so viel Zeit verbrachte wie bei meinen richtigen Großeltern.

In diesem Haus bewohnten meine Eltern zunächst eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Kohleofen und fensterlosem Bad. Mein Kinderbett stand im Schlafzimmer, womit auch geklärt wäre, wieso ich ein Einzelkind geblieben bin.

Irgendwann wurde die Wohnung nebenan frei, und ich bekam ein eigenes Zimmer, eingerichtet im modischen Chic der Siebziger, mit einem schreiend gelben Plastikschreibtisch und einem Jugendbett mit braun-orangefarbenem Muster. Unter der Decke verkleidete Leuchtstoffröhren wie in einem Büro.

Im Wohnzimmer hatten sich meine Eltern für eine schwarz-weiße Tapete entschieden, von deren psychedelischem Muster man besoffen wurde, wenn man lange genug draufstarrte und den Oberkörper rhythmisch vor und zurück bewegte.

Als ich achtzehn wurde, bezog ich ein winziges Appartement unter dem Dach. Inklusive Kochgelegenheit und Bad kaum zwanzig Quadratmeter, aber es hatte einen eigenen Eingang und eine eigene Klingel: Freiheit, die ich meine.

Ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass ich diese Freiheit nicht zu dem einen oder anderen alkoholischen Exzess genutzt hätte. Dummerweise hat man im besoffenen Kopf ja immer so einen unsinnigen Hunger, weshalb ich mir eines Nachts in einem Anfall von Großmannssucht ein Fertiggericht von Käfer in den Ofen schob, dann aber vor dem laufenden Fernseher wegdämmerte. Sechs Stunden später wachte ich auf und fragte mich, welche Todesschwadron mich ausräuchern wollte.

Ein bisschen problematisch war es, wollte man hier Damenbesuch empfangen, mit dem man etwas mehr unternehmen wollte als das Betrachten von Briefmarkenalben. Da das Appartement über keine Diele verfügte, gingen alle Geräusche direkt auf den Hausflur, und man braucht schon eine ausgeprägte exhibitionistische Ader, wenn man unter diesen Bedingungen erotisch aktiv werden und dies auch noch mit den üblichen Lauten der Zufriedenheit äußern will. Noch Jahre später musste ich mir »mittendrin« anhören, wieso ich denn so lange die Luft anhalte.

Drei Jahre später zog ich dann endgültig aus, aber bisher habe ich an keiner Straße länger gewohnt als an der Alleestraße. Das Zahnarztehepaar lebt nicht mehr, und für das Wahlkreisbüro der Linkspartei kann ich nichts.

 

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